Über das Reintal auf die Knorrhütte
Schwenk zurück, zwei Jahre zuvor:
bei einer Videokonferenz in meinem Hauptjob, offenbart unser schwerbehinderter Kollege Thomas seinen Herzenswunsch: "mein Traum ist es aus eigener Kraft auf die Zugspitze zu wandern".
"Dann lass uns das machen", war meine Antwort, die ohne lange zu überlegen rausgeschossen kam. Ich weiß noch wie wenn es heute gewesen wäre, wie gerührt Thomas damals war. Unsere Augen wurden feucht, als wir uns gemeinsam dieses Abenteuer ausmalten. Raiko, ebenfalls mit Handicap war von der ersten Sekunde an mit dabei und Kai vervollständigte unsere Gruppe.
Doch so einfach sollte es nicht klappen. Bereits zwei mal mussten wir die Tour aufgrund widriger Wetterverhältnisse schmerzhaft absagen. Endlich, im dritten Jahr nach unserer Planung sollte es soweit sein - der Wettergott war uns gnädig und wir fühlten uns gut vorbereitet, den höchsten Berg Deutschlands zu besteigen.
Für mich waren die folgenden zwei Tage definitiv mein Highlight im Jahr 2024. Ein Bergabenteuer das zeigt, wie Mut, Zusammenhalt und der Glaube an sich selbst hilft, scheinbar unüberwindbare Herausforderungen zu bezwingen.
Die Wanderung zur Zugspitze kann beginnen
Unser Abenteuer beginnt im malerischen Reintal. Bevor wir unsere Wanderstiefel schnüren, stellen wir eines unserer Autos am Seilbahn-Parkplatz der Zugspitze, nahe des Eibsees ab. Morgen soll es auf diesem Weg wieder bergab gehen.
Unser zweites Auto parken wir am Olympiastadion in Garmisch Partenkirchen, von wo unsere 2-tägige Wanderung startet.
Trotz der Vorfreude war ein Hauch von Nervosität spürbar. Werden wir die 18 Kilometer und 1.500 Höhenmeter im Aufstieg schaffen? Ich war das letzte Mal 2016, mit einer Gruppe Jugendlicher hier unterwegs (zum Artikel). Den Weg habe ich technisch als nicht schwierig in Erinnerung, doch die Strecke zieht sich und einiges an Kondition ist erforderlich. Jetzt,
8 Jahre später bin ich mit meinen Kollegen hier, von denen einer seit Geburt nur einen Arm hat und der andere aufgrund einer Gehbehinderung seinen Fuß nicht mehr spürt bzw. bewegen kann. Gerade diese körperlichen Einschränkungen verleihen der Unternehmung eine ganz besondere Herausforderung, denn barrierefrei ist die Wanderung auf die Zugspitze nicht.
Tipp für deine Zugspitzwanderung: starte früh vor allen anderen
Unsere Rucksäcke sind mit allem Nötigen für die nächsten zwei Tage die vor uns liegen gepackt - wir sind startbereit. Voller Hoffnung setzen wir einen Schritt vor den anderen. Noch sind nicht viele andere Menschen unterwegs, da wir sehr früh gestartet sind. So haben wir genügend Zeit und müssen nicht hetzen, das war uns allen vieren sehr wichtig.
Nach kurzer Zeit setzt Regen ein. Tatsächlich war das eine unsere Sorgen, da die Wege bei Nässe sicherlich rutschig werden. Speziell für Thomas, der seit einem Motorradunfall vor einigen Jahren kein Gespür mehr im linken Fuß hat, macht es die Tour gleich deutlich schwieriger. Wir ziehen unsere Regenklamotten an, bezahlen den Eintritt an der Partnachklamm und treten durch das Eingangstor in den dunklen Felsen hinein.
Die Partnachklamm ist auch für Familien ein besonderes Highlight in der Zugspitzregion
Dahinter wartet eine andere Welt auf uns. Die Partnachklamm ist eine ca. 700 Meter tiefe Klamm, durch die sich der Wildbach "Partnach" seinen Weg bahnt. Bis in die 1960 Jahre wurden in der Partnach Holz transportiert. Beim Entfernen der zum Teil verkeilten Baumstämme ließen viele Männer ihr Leben.
Trotz der traurigen Geschichte, ist die Besichtigung dieses Naturdenkmals ein ganz besonderes Highlight. Von den Felswänden plätscherte das Wasser und unter uns rauscht mit ohrenbetäubenden Lärm die Partnach. Meine Kollegen sind hier zum ersten Mal und es freut mich total, sie mit offenen Mündern staunen zu sehen. Wir vertrödeln ziemlich viel Zeit, da wir soooo viele Fotos schießen und einfach nicht voran kommen.
An der Partnach wandern wir durch das Reintal
Als wir die nasse und dunkle Klamm verlassen, reißt der Himmel auf. Sonnenstrahlen landen auf unseren Gesichtern und die Landschaft wir im nu farbenfroher. Das Grau des Himmels weicht immer mehr der blauen Farbe, die Laub- und Nadelbäume leuchten satt grün und die Partnach, die weiterhin neben uns fließt, schimmert in einem wunderschönen türkis.
Auf einem einfach zu gehenden, breiten Forstweg schlendern wir immer weiter Richtung Berge. "Das sieht noch ganz schön weit aus", stellen wir alle fest. Bis wir an die ersten Bergflanken treffen, wird es wohl noch eine Weile dauern. Dank des einfachen Wanderwegs können wir gute Gespräche führen. Obwohl wir uns alle aus unserer Arbeitswelt kennen, ist das Thema Arbeit unglaublich weit weg. Wir sprechen über vergangene Reisen, Ziele und natürlich auch über die Handicaps und Schicksalsschläge, die einige prägen.
Zu den "Big Five" der Alpen zählt auch die Gams
Wir treffen am Wegesrand auf einen jungen Jäger, der gerade eine erlegte Gams auf seinem Quad festbindet. Es beeindruckt mich, wie respektvoll er mit dem Tier umgeht. "Der Zweig im Mund der Gams nennt man 'Bruch nach Schuss'. Der Jäger drückt so die Achtung vor dem Tier aus und erweist ihm die letzte Ehre.", erklärt er uns. "Man sagt auch 'der letzte Bissen' zu diesem Brauch."
"Der Jagdplan legt fest, wieviele Tiere in einem bestimmten Gebiert pro Jahr erlegt werden müssen", sagt er weiter. Außerdem haben sie hier seit einiger Zeit erhebliche Sterberaten bei ganz jungen Gämsen, die wohl tatsächlich ein Adler tötet. Es war wirklich sehr interessant, was der Jäger zu berichten hatte und wir hätten ihm gerne weiter gelauscht. Doch wir mussten weiter.
Nicht nur ein Naturerlebnis, sondern auch ein kulinarischer Genuss
Wir überqueren die Partnach und stehen kurze Zeit später vor einer einladenden Hütte - der Bockhütte. Eigentlich habe ich noch keinen Hunger, doch als ich den Zwetschgenkuchen sehe, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Also wenn meine drei Männer einen Kuchen essen, dann muss ich das doch auch machen, oder? Mhhhh, der Kuchen ist soooo lecker und die Stücke noch wirkliche Stücke und keine Stückle (falls ihr keine Schwaben seid: Stückle ist das Wort für ein sehr kleines Stück).
Mit übervollem Bauch geht es weiter auf unserer Route. Der Weg wird nun etwas schmäler und steiniger. Immer wieder geht es sanft ansteigend bergauf. Alles in allem immer noch super easy zu laufen. Wir kommen richtig gut voran und bisher hat keiner irgendwelche Probleme aufzuweisen.
Verschiedene Wanderwege auf die Zugspitze
Die steilen Felswände kommen immer näher. Ich bin schon voller Vorfreude, wenn wir endlich tiefer in die Berge eintauchen. Auf die Zugspitze führen übrigens 4 Weg in unterschiedlicher Schwierigkeit:
- durch das Reintal und die Knorrhütte (2.300 Höhenmeter, 21 km, Schwierigkeit überwiegend einfach, letztes Stück schwer)
- über die Ehrwalder Alm und das Gatterl (2.100 Höhenmeter, 14 km, Schwierigkeit überwiegend einfach, ein Stück mittelschwer, letztes Stück schwer)
- über den Stopselzieher (2.015 Höhenmeter, 8 km, Schwierigkeit mittel und schwer, Klettersteig A)
- über das Höllental (2.200 Höhenmeter, 9 km, Schwierigkeit mittel und schwer, Klettersteig C, Gletscherübergang)
Bergsteigen mit Behinderung - geht das?
Wir haben uns für die erste Variante über das Reintal entschieden. Technisch ist dies die einfachste Wanderung auf die Zugspitze, von der Strecke allerdings die Längste.
Im Jahr zuvor hatten wir uns im Thüringer Wald getroffen um auszuloten, wie lange wir grundsätzlich laufen konnten (zum Artikel). Am Ende des Tages kamen wir damals auf über 20 Kilometer. Vor allem Thomas war total sprachlos über diese Leistung. So weit war er mit seiner Gehbehinderung bisher noch nie gewandert. "Ohne euch hätte ich das nie geschafft", sagte er damals. Die Motivation der Gruppe kann einem definitiv viel Kraft verleihen, doch laufen muss am Ende jeder selbst.
Ich hoffe so inständig, das wir alle gesund und munter morgen auf der Zugspitze ankommen werden. Für mich sind diese zwei Wandertage definitiv etwas ganz besonderes - wann hat man schon die Gelegenheit, jemandes Lebenstraum mit zu erfüllen?
Einkehr auf der Reintalangerhütte, ein guter Stop auf dem Weg zur Zugspitze
Die nächste Pausenstation lässt nicht lange auf sich warten. Nach ca. 5 Stunden Wanderung von Garmisch Partenkirchen aus, erreichen wir die Reintalangerhütte, auf der man theoretisch auch übernachten kann.
Die Kuchen auf der Hütte sind für die Herren der Schöpfung zu verlockend ;-). Während sie genüsslich den Kuchen verspeisen, erklärt uns der Wirt den nun folgenden Wegabschnitt.
"Bisher war es ein Spaziergang", lacht er. "Nun wird es alpin. Es geht steil bergauf und es wird richtig felsig". Ich erkenne, wie sich die Gesichtsausdrücke von Thomas, Raiko und Kai etwas verändern. Auch ich denke innerlich: "es ist doch bis zur Knorrhütte eigentlich ein blauer, also einfacher Bergweg". Irgendwie irritiert uns die Beschreibung etwas. Vielleicht wollte er uns aber auch einfach als Übernachtungsgäste gewinnen oder uns bewusst machen, auf was wir uns einlassen. Immerhin wandern täglich zahlreiche Menschen auf die Zugspitze, die nicht immer bergerfahren, vorbereitet und gut ausgerüstet sind. Vermutlich erlebt man hier als Hüttenwirt so einiges.
Die Wanderung ist ein unbeschreibliches Naturerlebnis
Wir begeben uns auf die nächsten ca. 2,5 Stunden Weg bis zur Knorrhütte. Der Bewuchs lichtet sich mehr und mehr, umso höher wir steigen. Mittlerweise sind die mächtigen Felswände ganz nah neben uns - wir sind total beeindruckt. Vor allem Thomas ist den Tränen nahe, so sehr fasziniert ihn diese Landschaft. "Ich hätte nie gedacht, das ich mich auf so ein Abenteuer begebe", sagt er ehrfürchtig. "Es bedeutet mich sehr viel, das ihr das mit mir macht".
Raiko kommt mit seinem Handicap, dem einen Arm bisher sehr gut zurecht. Er wandert mit seiner Familie oft in den Bergen und der Weg macht ihm keinerlei Schwierigkeiten. Morgen kommt eine lange und ausgesetzte Stahlseilpassage. Wie wir diese meistern, ist noch ungewiss. Doch erstmal denken wir nicht daran. Wir haben im Vorfeld alles ganz genau geplant, haben an mögliche Umkehrpunkte gedacht und fühlen uns gut vorbereitet.
Eine alpine Bergtour ist nicht zu unterschätzen
Das Gelände wird felsiger. Am Ursprung der Partnach geht es vorbei und quer über eine weite Hochfläche. Hier verlieren wir kurz die bisher eindeutigen Wegmarkierungen, finden jedoch wieder schnell auf den Weg zurück. "Geht es da hoch?", fragt Thomas und zeigt auf einen steilen Berghang direkt vor unserer Nase. "Ich denke ja", antworte ich. "Auf der Karte ist hier ein Zickzack-Weg eingezeichnet, das wird er sein".
In steilen Serpentinen geht es jetzt den Berg hinauf. Der Untergrund besteht aus vielen, teils losen Steinen. Ich bin mehr als beeindruckt, wie Thomas diesen Weg meistert. Kein einziges mal rutscht ihm der Fuß weg, obwohl er im linken Fuß kein Gespür mehr hat. Anders als beim Rest unserer Gruppe - bei uns anderen ist immer mal kurz der Fuß nach hinten weggerutscht. "Wie machst du das?", möchte ich von Thomas wissen. Er erklärt mir, das er sehr viel visuell einschätzt und einfach langsam und konzentriert seine Schritte setzt. Er erkennt es also bereits vom Blick, ob sein Fuß einen guten Stand hat oder nicht.
Wichtigster Tipp für die Wanderung auf die Zugspitze: schätze dich selbst richtig ein
Auf den Wegweisern ist der Weg seit der Reintalangerhütte nun doch rot gekennzeichnet, was die Schwierigkeit "mittel" bedeutet. Anders als in den Tourenbeschreibungen, die wir zuvor im Internet studiert hatten, war dort der Weg bis zur Knorrhütte mit "blau", also "einfach" beschrieben.
Ich mache mir allerdings keine Sorgen mehr, da ich die Trittsicherheit aller als sehr gut einschätzte. Da ich mittlerweile Trainerin C Bergwandern beim DAV bin, mache ich mir wenn ich mit Gruppen unterwegs bin nun deutlich mehr Gedanken, als zuvor. Durch die sogenannte Garantenstellung kann man haftbar gemacht werden, wenn der oder die Trainer/in einen Unfall aufgrund der absolvierten Ausbildung hätte vorhersehen müssen.
Ich war mega stolz auf unsere Gruppe. Wer hätte das gedacht, das wir trotz verschiedener Handicaps genau die Zeitangaben auf den Schildern schaffen. Unser Motto "langsam aber stetig" scheint echt gut zu funktionieren.
Lebenstraum Zugspitze, der höchste Berg Deutschlands
Während Raiko und Kai vorne den Weg auskundschaften, bleibe ich immer direkt hinter Thomas. "Es gibt mir extrem viel Sicherheit, wenn ich weiß das du hinter mir bist und aufpasst", sagt Thomas immer wieder. Das freut mich unbeschreiblich. Genau diese Momente lassen für mich eine Tour besonders werden. Nie sind es für mich die Gipfelziele, sondern immer die Erlebnisse mit Menschen, die eine Tour einzigartig und unvergesslich machen.
Thomas fragte mich vor über zwei Jahren, als wir die Tour planten, ob das nicht zu langweilig für mich sei. Tatsächlich erschreckte mich die Frage etwas, da ich meiner Meinung nach noch nie der Mensch war, um mit höher-schneller-weiter-Erfolgen zu prahlen. "Nein, ganz und gar nicht", antwortete ich damals. "Für mich stehen die gemeinsamen Erlebnisse immer an höchster Stelle, egal wie leicht oder schwer der Weg ist".
An diesen Moment musste ich gerade zurück denken, als mir etwas Tränen in die Augen stiegen. Einen Menschen auf seinem Traumweg begleiten zu dürfen - dafür bin ich unendlich dankbar.
Schritt für Schritt nähern wir uns unserem Ziel
Das letzte Stück wird technisch nochmals etwas schwieriger. Eine steile, verkarstete Felsfläche müssen wir überwinden. Dank der vorhandenen Tritte kommen wir gut voran. Die Stöcke sind an dieser Stelle für Thomas hinderlich. Er möchte sich lieber rechts und links an den Felsen festhalten. Schritt für Schritt steigt er höher.
Oben angekommen, warten bereits Raiko und Kai freudig auf uns. "Wir müssten bald da sein", sagen sie und tatsächlich kommt kurze Zeit später die Knorrhütte in Sicht.
Übernachtung auf der Knorrhütte
Auf der Terrasse der Knorrhütte sitzen die zwei Mädels, die wir den Weg über immer wieder gesehen haben. Sie klatschen Beifall und Jubeln uns zu, als wir die Hütte erreichen. So süß, wie echt viele mit uns mitfiebern. Definitiv fallen wir hier auf und werden das ein oder andere Mal auch zu unserer Unternehmung angesprochen.
Überglücklich fallen wir uns in die Arme. Wir haben den ersten Teil tatsächlich geschafft. Unser Glaube aneinander lässt uns tatsächlich Berge erklimmen. Okay, es war heute "nur" die Hütte ;-). Doch jetzt sind wir noch motivierter als zuvor und ich bin mir sicher, morgen werden wir gemeinsam den Gipfel der Zugspitze besteigen.
Müde und etwas erschöpft fallen wir nach einem leckeren Abendessen in unsere Betten. Seelig schlafen wir ein - der Gipfel der Träume ist in greifbarer Nähe.
Fortsetzung folgt...
Fotogalerie unseres 1. Tages - von Garmisch Partenkirchen zur Knorrhütte:
Den GPX-Track der Wanderung über das Reintal zur Knorrhütte findest du hier:
Erlebnisberichte zu weiteren Bergabenteuern gibt es hier.
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Michl (Sonntag, 22 Dezember 2024 22:11)
Toller Bericht und Hut ab vor der Leistung von Thomas! Ich bin die Tour auch schon gelaufen und das letzte Stück bis zum Gipfel ist nicht ohne!